Otto Lilienthals Brief an Moritz von Egidy in Berlin

ohne Datum, ca. 1/1894

Sehr geehrter Herr Oberstlieutenant.

Ihr Aufsatz über die Handelsverträge in der von mir gehaltenen "Versöhnung" veranlaßt mich, einige Zeilen an Sie zu richten, um deren freundliche Aufnahme ich bitte.

Mit Begeisterung habe ich oft Ihren Worten gelauscht, in denen Sie die Grenzen nicht als Trennung, sondern als die Verbindung der Länder bezeichneten.

Auch ich habe mir die Beschaffung eines Kulturelementes zur Lebensaufgabe gemacht, welches Länder verbindend und Völker versöhnend wirken soll. Unser Kulturerleben krankt daran, daß es sich nur an der Erdoberfläche abspielt. Die gegenseitige Absperrung der Länder, der Zollzwang und die Verkehrserschwerung ist nur dadurch möglich, daß wir nicht frei wie der Vogel auch das Luftreich beherrschen.

Der freie, unbeschränkte Flug des Menschen, für dessen Verwirklichung jetzt zahlreiche Techniker in allen Kulturstaaten ihr Bestes einsetzen, kann hierin Wandel schaffen und würde von tief einschneidender Wirkung auf alle unsere Zustände sein.

Die Grenzen der Länder würden Ihre Bedeutung verlieren, weil sie sich nicht mehr absperren lassen; die Unterschiede der Sprachen würden mit der zunehmenden Beweglichkeit der Menschen sich verwischen. Die Landesverteidigung, weil zur Unmöglichkeit geworden, würde aufhören, die besten Kräfte der Staaten zu verschlingen, und das zwingende Bedürfnis, die Streitigkeiten der Nationen auf andere Weise zu schlichten als den blutigen Kämpfen um die imaginär gewordenen Grenzen, würde uns den ewigen Frieden verschaffen.

 Wir nähern uns diesem Ziele. Wann wir es ganz erreichen, weiß ich nicht. Das Schärflein, was ich hierzu beigetragen habe, finden Sie in den Anlagen. Ich werde froh sein, wenn ich einen kleinen realen Beitrag liefern kann zu den hohen und idealen Kulturaufgaben, welche Sie verfolgen.

Ihr ergebener
Otto Lilienthal

 

Siehe auch: Otto-Lilienthal-Museum Anklam